Widerspruch zum sicherheitspolitischen Mainstream in Deutschland – diesen will die neue Zeitschrift „multipolar“ leisten. Für die Redaktion aus Potsdam geht es um eine Perspektive, die über militärische Aspekte hinausblickt, wirtschaftliche und soziale Fragen einbezieht sowie auf gemeinsame Sicherheit abzielt.
Wir leben in turbulenten Zeiten. Es ist gerade jetzt nötig, sich kritisch mit Sicherheitspolitik zu beschäftigen, vor allen Dingen angesichts der eskalierenden Spannungen in und um Syrien, aber auch um Nordkorea oder in Afghanistan.“ So beschrieb David X. Noack im Gespräch aus aktuellem Anlass das Anliegen der neuen Zeitschrift „multipolar“ aus Potsdam. Sie ist der kritischen Sicherheitsforschung gewidmet und der Militärwissenschaftler ihr Chefredakteur.
Das Heft, das nach der ersten Ausgabe Ende März jeweils dreimal im Jahr erscheinen wird, soll laut Noack zeigen, dass sich Sicherheitspolitik nicht nur auf militärische oder strategische Fragen beschränkt. Das sei der klassische Ansatz, von dem die etablierte Politik wie auch die Mainstreammedien ausgingen: „Das Militär als Faktor an sich, nicht als Teil einer Gesellschaft, in diese hineinwirkend.“ Dabei gebe es bisher zu wenig Aufmerksamkeit für wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge und politische Folgen für die Sicherheit zum Beispiel durch die Wirtschaftspolitik.
Die „multipolar“-Redaktion aus Noack und dem ehemaligen Diplomaten und Abrüstungsexperten Hubert Thielicke, angesiedelt beim Potsdamer Welttrends-Verlag, will ganz bewußt die Tradition der Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) aufnehmen. Diese bestand aus früheren DDR-Militärs und
-Diplomaten und hatte sich Ende 2015 aufgelöst. Sie hatte eigene Publikationen veröffentlicht, so die auch international beachteten „DSS-Arbeitspapiere“. Anliegen der Dresdner Gruppe war es, „mit dem Ideengut, das im Ost-West-Konflikt den Ausweg aus der tödlichen Bedrohung durch gegenseitige atomare Abschreckung geöffnet hatte, grundsätzlich einen Neuansatz der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach dem Kalten Krieg zu begründen“ So gibt es DSS-Mitglied Wolfgang Scheler im ersten „multipolar“-Heft wieder.
„In Kurzform lautet er: Nur der Übergang von konfrontativer zu gemeinsamer Sicherheit ermöglicht die Entmilitarisierung der Sicherheitspolitik und schafft so die Garantie des Friedens.“
Kritische versus etablierte Perspektive
Diesem Anspruch fühlen sich Chefredakteur Noack und seine Mitstreiter verpflichtet, wie er im Gespräch betonte. Die Zeitschrift soll eine kritische Perspektive in die sicherheitspolitische Debatte in der Bundesrepublik einbringen. Eine solche Publikation gebe es bisher nicht, sagte er. Allerdings hatte er registriert, dass fast zeitgleich mit „Sirius“ eine ähnliche neue Zeitschrift herausgegeben wurde. Diese beschäftigt sich mit strategischen Analysen und wird von einem Kollektiv um den Politikwissenschaftler Joachim Krause von der Universität Kiel herausgegeben. Es handele sich um einen Zufall, dass zwei neue Journale zu einem ähnlichen Themenbereich erscheinen, meinte Noack dazu.
Er erwartet, dass „Sirius“ eher die klassische sicherheitspolitische Perspektive des Politik-Mainstreams auf die Welt und die Konflikte wiedergeben wird. „multipolar“ wolle dagegen mit der eigenen kritischen und alternativen Sicht die Debatte befruchten. Der eigene Titel sei bewusst gewählt worden: „Wir sehen die Entwicklung zu einer multipolaren Welt.“ Der Militärwissenschaftler und Chefredakteur ergänzte:
„Es gibt aber die absteigenden Mächte, die das mit Gewalt oder mit ihrer noch vorhandenen ökonomischen Vorherrschaft verhindern wollen. Wir wollen das kritisch begleiten und hoffen natürlich, dass vertrauensbildende Maßnahmen zwischen Ost und West, aber auch in Asien, zwischen den verschiedenen Mächten etabliert werden können, damit es nicht weiter zu neuen Kriegen kommen wird.“
Die neue Zeitschrift aus Potsdam hat ihr erstes Heft dem Schwerpunktthema „Eingefrorene Konflikte“. Darin geht es um die Lage in der Republik Moldau und Transnistrien, in der Westsahara sowie in der Region Berg-Karabach. Die Lage in der Ukraine und dem Donbass sei dabei nicht ins Visier genommen worden, weil dieser Konflikt nicht abgeschlossen sei, eben noch nicht „eingefroren“, erklärte Noack. Er setzt auf bekannte Autoren wie den Nahostwissenschaftler Werner Ruf und den Abrüstungsexperten Otfried Nassauer, die im ersten Heft ebenso zu lesen sind wie der Moskauer Politologe Wladimir Jewsejew. Neue Autoren sollen gewonnen werden, darunter auch widerstreitende Stimmen: „Wir sind offen, wir sind plural und wir werden uns gern auch andere Meinungen anhören.“
Große Kriegsgefahr – ähnlich wie in 1930er Jahren
Gefragt nach seiner Perspektive auf die weitere internationale Entwicklung zeigte sich der „multipolar“-Chefredakteur eher skeptisch:
„Die Wahl Donald Trumps war selbstverständlich überraschend. Seine Sicherheitspolitik ist noch nicht ausgemacht, soweit sich das abschätzen lässt. Da ist noch alles möglich. Einerseits ist er auf dem Ticket ‚Keine weiteren internationalen Militärinterventionen!‘ gestartet. Jetzt hat er seine erste in Syrien gemacht. Sie war wieder völkerrechtswidrig, so wie viele US-amerikanische Militärinterventionen vorher. Die USA sind ökonomisch auf einem absteigenden Ast. Die EU perspektivisch auch. Die EU bricht auch auseinander, siehe die Brexit-Verhandlungen. Jetzt wurde angekündigt, dass in GB Neuwahlen sein werden.“
Die Kriegsgefahr sei groß und die Frage unklar, wie sich die USA China gegenüber verhalten werden. Noack befürchtet Provokationen von Washington, um damit dann Sanktionen gegen China zu rechtfertigen, ähnlich wie es im Fall der Ukraine gegenüber Russland geschah. Er verglich die heutige Weltlage mit der in den frühen 1930er Jahren, abgesehen davon, dass die Sowjetunion nicht mehr existiere und der Faschismus nicht mehr als dominante politische Kraft vorhanden sei. Die Stimmung und die wirtschaftlichen Faktoren seien aber ähnlich, ebenso die „Neigung von einigen Staaten, Probleme durch Gewalt zu lösen“.
Dagegen wolle die neue Zeitschrift aus Potsdam aber anschreiben:
„Wir werden versuchen, die ökonomischen Faktoren und die Beweggründe zu analysieren – nicht nur einfach simpel zu verteufeln wie das heutzutage weit verbreitet ist, sondern versuchen zu verstehen, um dann vielleicht mit vertrauensbildenden Maßnahmen oder mit neuen Ansätzen die internationale Politik hoffentlich auf einen friedlicheren Weg zu bringen.“