9. November 1989: Vom Grenzschützer zum Grenzöffner  – Harald Jäger blickt zurück. Teil 1

Vor 30 Jahren hat eine übereilte Information über die geplante Reisefreiheit für DDR-Bürger die deutsch-deutsche Grenze geöffnet. Nach der entsprechenden Erklärung von SED-Funktionär Günter Schabowski hatten die DDR-Grenzschützer und -Kontrolleure keine Wahl mehr: Sie haben die Tore geöffnet. Zu ihnen gehörte der Grenzoffizier Harald Jäger.

Harald Jäger gilt als „Der Mann, der die Mauer öffnete“. So heißt ein Buch von Gerhard Haase-Hindenberg über ihn, das 2007 erschien. 30 Jahre nach dem 9. November 1989 ist er wie zuvor ein gefragter Gesprächspartner, wenn es um die damaligen Ereignisse geht. Er war mittendrin: Als derjenige, der in der damaligen Nacht gegen 23.30 Uhr den Befehl gab, den Schlagbaum am Grenzübergang Bornholmer Straße zu öffnen.

Damit ergoss sich am 9. November 1989, kurz vor Mitternacht, ein Strom von DDR-Bürgern über West-Berlin. „Wir fluten jetzt“ lautete passenderweise die Meldung an die Vorgesetzten, die die DDR-Grenzer kurz danach absetzten. Die anderen fünf Grenzübergangsstellen zwischen Ost- und West-Berlin folgten kurz darauf, ebenso die an der mehr als 1.500 Kilometer langen Grenze zwischen DDR und BRD.

Harald Jäger im Herbst 2019 (Foto: Tilo Gräser)

Jäger wirkt gut gelaunt, als er mich zum Gespräch empfängt. Wie vielen Journalisten er schon Rede und Antwort stand oder saß, weiß er nicht mehr. Trotzdem sprudelt er fast, als er erzählt, was damals geschah und wie er dazu kam, die Grenze öffnen zu lassen. Dabei gilt der heute 76-Jährige eigentlich nicht als einer, der die Öffentlichkeit sucht. Aber er hat sich in seine neue Rolle hineingefunden – und inzwischen sogar Autogramm-Karten.

„Das war’s wohl“

Er würde heute in einer ähnlichen Situation die gleiche Entscheidung treffen, erklärt er zu Beginn. Jäger war im Herbst 1989 als Oberstleutnant einer der beiden Stellvertreter der Passkontrolleinheit (PKE) an der Grenzübergangsstelle (Güst) Bornholmer Straße. Die befand sich im Stadtbezirk Prenzlauer Berg, vor der „Bösen Brücke“. Die PKE gehörten zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Ihre Angehörigen trugen zur Tarnung die Uniform der DDR-Grenztruppen. In der Nacht vom 9. zum 10. November vor 30 Jahren hatte er regulär Dienst.

Die Entwicklung in der DDR ging an dem bis dahin treuen Staatsdiener Jäger nicht spurlos vorbei. Er hatte nach seinen Worten lange vor dem 9. November Zweifel an dem, was er in der DDR und auch durch seine Tätigkeit als MfS-Offizier an der Grenze erlebte. Beim Dienst habe er nur mit dem anderen PKE-Stellvertreter Edwin Görlitz offen darüber sprechen können, nicht mit seinem PKE-Leiter Werner Bachmann und nicht mit jenen von den DDR-Grenztruppen, die mit ihnen an der Bornholmer Straße dienten. „Ich wusste, wenn ich mich mit ihm unterhalte, bleibt es unter den vier Ohren.“

Als er Görlitz in den Morgenstunden des 10. November auf dem Platz vor der Brücke traf, habe der zu ihm gesagt: „Harald, das wird‘s wohl gewesen sein.“ Auf Nachfrage, was er meine, sei als Antwort gekommen: „Na, mit der DDR.“ Er selbst habe noch geglaubt, es gehe mit der DDR weiter, fügte Jäger hinzu, als er sich daran erinnerte.

„Eine andere Alternative gab’s zu diesem Zeitpunkt nicht.“

„Hinterhältiger geht es nicht mehr“

Das hat er von Beginn an so gesehen, als er 1961 Grenzpolizist wurde, kurz vor dem Bau der „Berliner Mauer“, der Grenzschließung der DDR zum Westen. Er erlebte die noch offenen Grenzen mit allen Problemen wie Schmuggel und Arbeitspendler, beides von Ost nach West, ebenso wie den Mauerbau mit dessen Folgen. Von den zehntausenden DDR-Bürgern, die in den Westen flüchteten habe er nichts gewusst – „oder es nicht wahrhaben wollen“, fügte Jäger hinzu. Als am 13. August 1961 die Grenze dicht gemacht wurde, habe er das begrüßt und sei glücklich gewesen, dass der Schmuggel aufhörte.

Doch mit der Zeit sei das Grenzregime ständig weiter verschärft worden, womit er auf Dauer nicht mehr einverstanden war. Als er von den Selbstschussanlagen an der Grenze zur BRD hörte, habe er das anfangs nicht wahrhaben wollen. Auch der Minengürtel im Grenzstreifen habe ihn irritiert. „Hinterhältiger geht es nicht mehr, um einen Menschen zu verletzen oder umzubringen“, kommentierte er das im Gespräch.

„Wir schieben die Verantwortung von einer Person auf ein Gerät“, habe er seinem Dienstgenossen Görlitz gesagt. Das ganze Grenz-System habe sich in diese Richtung bewegt. In seinen Anfangsjahren als Grenzschützer habe er das noch anders erlebt. Damals hätten die Grenzer jene, die versuchten, zu flüchten oder zu provozieren, noch nach Ruf und Warnschuss einfangen müssen. Manchmal seien sie dabei auf bundesdeutsches Gebiet geraten – und manche seien dabei fahnenflüchtig geworden. Doch auch aufgrund von Personalmangel sei immer mehr auf Technik gesetzt worden.

„Immer das Gegenteil gemacht“

Die Abstände zwischen den Postentürmen an der Grenze, die heute fälschlicherweise als „Wachtürme“ bezeichnet werden, haben laut Jäger 300 Meter betragen. Für die Grenzsoldaten sei es so fast unmöglich gewesen, vom Turm aus mit der Maschinenpistole bei einem Grenzverletzer nur die Beine zu treffen, wenn sie schossen. Er erinnerte außerdem daran, dass zum Beispiel Fluchtversuche mit selbstgebauten Ballons dazu führten, dass es den entsprechenden Stoff nicht mehr zu kaufen gab.

„Wenn jemand versuchte, die Elbe mit einem selbstgebauten U-Boot zu durchtauchen, gab es die Materialien nicht mehr in der DDR.“

Er habe das damals so zugespitzt: „Wenn einer besoffen aus der Kneipe kommt, reißen wir die Brauereien ein.“ Und:

„Wir haben immer genau das Gegenteil von dem gemacht, was wir hätten machen müssen.“

Es sei in der DDR alles immer mehr eingeschränkt worden, selbst die schon begrenzte Reisefreiheit. Das habe sich zugespitzt, nachdem im Frühjahr immer mehr ausreisewillige DDR-Bürger BRD-Botschaften besetzten, von Warschau bis Budapest und selbst die BRD-Vertretung in Ost-Berlin.

„Alles wurde eingeschränkt – und wir haben immer vom Sieg des Sozialismus gesprochen, von der Erweiterung der Demokratie“, beschrieb Jäger die offensichtlichen Widersprüche im DDR-Alltag. Selbst innerhalb seiner Partei, der SED, habe er das erlebt. Diese Entwicklung habe ihn zunehmend zweifeln lassen und ihm klar gemacht: „Es muss sich etwas ändern.“

„Es hat nichts genutzt“

Die DDR-Führung habe keine Lösung für die Probleme gefunden, erinnerte sich Jäger. Selbst in der Wirtschaft sei es bergab gegangen, wie er über Verwandtschaft direkt mitbekommen habe. Das habe selbst Vorzeigebetriebe in der Elektronikindustrie getroffen, die sich notwendige Teile im Tauschhandel besorgen mussten. Es habe „Korruption hoch Fünf“ gegeben, sagte er rückblickend.

Auch die Fluchtbewegung aus der DDR im Jahr ’89 und die Reaktionen der SED-Führung hätten ihn beschäftigt und zweifeln lassen. Dazu gehörte nach seinen Worten, dass das MfS im Sommer vor 30 Jahren Mitarbeiter auf die ungarischen Zeltplätze schickte, um dort DDR-Bürger zu überwachen und von der Flucht abzuhalten.

„Da gab es eine Extra-Arbeitsgruppe dafür. Genutzt hat es uns gar nichts, im Gegenteil.“

Er habe später den ungarischen Grenzoffizier Árpád Bella kennengelernt, der am 19. August 1989 das Grenztor zu Österreich öffnete, durch das rund 600 DDR-Bürger nach Österreich flohen. Eigentlich sollte es nur für ein paar Stunden ein „paneuropäisches Picknick“ ermöglichen, bei dem sich Ungarn und Österreicher im Grenzgebiet treffen sollten.

„Die Jugend verließ uns“

Er habe seinen Dienst-Kollegen Görlitz gefragt, ob der gesehen habe, wer in den Zügen mit den Botschaftsbesetzern aus Prag und Warschau saß:

„Das war die Jugend, auf die wir gebaut haben, die verlässt uns. Die Jugend verlässt den Staat, da hat der Staat doch keine Existenzberechtigung mehr. Wir müssten den hinterherjammern, dass sie gehen.“

Der Grenz-Kontrolleur vom MfS hielt den am 6. November 1989 vorgestellten Entwurf für ein neues DDR-Reisegesetz „von A bis Z für nicht durchführbar“. Der Entwurf, der mehr Reisefreiheit bringen sollte, stieß damals auf heftige Kritik in der Öffentlichkeit und wurde wieder zurückgezogen. Um sich aus der Misere zu manövrieren, präsentierte die SED-Spitze drei Tage später eine neue Reiseverordnung – die, vorgestellt von Günter Schabowski, ungeplant zur Grenzöffnung führte.

In Teil 2 des Rückblicks von Harald Jäger berichtet er, wie es dazu kam, dass er in der Nacht vom 9. November 1989 den Schlagbaum an der Bornholmer Straße öffnen ließ.