„Große friedliche Oktoberrevolution“ – Friedrich Schorlemmer über DDR 1989. Teil 2

Der Theologe und Pfarrer Friedrich Schorlemmer hat vor 1989 und danach ausgesprochen, was viele in der DDR bedrückte und dachten. Gegenüber Sputnik beschrieb er seine Sicht auf das untergegangene Land, was in drei Teilen nachzulesen ist. In Teil 2 geht es vor allem um die Opposition in der DDR und die Rolle der Kirchen.

Friedrich Schorlemmer während einer Veranstaltung zur Leipziger Buchmesse im März 2019

Die Ende der 1980er Jahre öffentlich bekannt gewordene Opposition in der DDR gab es schon seit Jahren, bespitzelt und kleingehalten durch das Ministerium für Staatsicherheit (MfS). Aus der Sicht des Wittenberger Theologen und Pfarrers Friedrich Schorlemmer hatten sich die kritischen Geister in der DDR nicht von dem „Schock von Prag“ 1968 erholt. Für jene, die weiter Sozialisten sein wollten, sei es ein Verrat an den eigenen Idealen und Zielen gewesen, sagte er im Gespräch mit Sputnik.

Aber:

„Die, die keine Kommunisten waren, sahen, dass Kommunisten in der Lage sind, die individuellen mit den sozialen Menschenrechten zu verknüpfen und dafür den Kopf hinzuhalten, ob im Prager Frühling oder bei der ‚Charta 77‘.“

Schorlemmer, Jahrgang 1944, ist Pfarrer und Theologe und war einer der Aktivisten der Bürgerbewegung in der DDR. Der Schriftsteller Walter Jens beschrieb ihn 1990 als einen „Mann zwischen den Fronten“: „Gestern als rebellischer Pfaffe, Anwalt der Wehrdienstverweigerer und entschiedener Gorbatschowist in die Büros der Staatssicherheit zitiert …, gestern als Christ des Dritten Wegs bespitzelt, geschurigelt, an den Pranger gestellt, wird Schorlemmer heute als Roter beargwöhnt.“ Das erlebe der bürgerbewegte Pfarrer, weil er die Idee eines libertären Sozialismus nicht aufgegeben habe.

Resignation und nie aufgegebene Hoffnung

Doch es habe keine Opposition als große Kraft gegeben, nur kleine Gruppen, erklärte der Wittenberger Theologe. Diese hätten sich in Wohnungen von Einzelnen getroffen und dort „das freie Wort gewagt, wissend, dass ‚Horch und Guck‘ immer dabei war“. „Horch und Guck“ war unter der DDR-Bevölkerung ein Spitzname für das MfS. Allerdings sei in Ost-Berlin, der DDR-Hauptstadt, mehr möglich gewesen als in anderen Orten des Landes. Die kleinen Gruppen in der Provinz, in Wittenberg oder Suhl oder Bautzen oder anderswo, seien keine Volksbewegung gewesen und seien oft resigniert, erinnerte sich Schorlemmer.

1989 hätten sie plötzlich öffentlich Gehör gefunden, ebenso seien sie von immer mehr Menschen unterstützt worden, „die nicht wussten, was passiert“. Das sei besonders am 9. Oktober 1989 in Leipzig deutlich geworden, wie überhaupt in der  Zeit vor dem 9. November vor 30 Jahren. „Das war ein Glückserlebnis, zu seinem Volk, dem der DDR, zu gehören und zu sehen, was sie für eine Klarsicht gehabt hatten“, beschrieb der bürgerbewegte Theologe, was er damals empfand. Die Menschen hätten gesehen, wie zerrüttet das Land war, aber nicht aufgegeben, den so linken wie freiheitlichen Reformgedanken hochzuhalten.

Reformideen seien auch aus dem SED-SPD-Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ von 1987 gekommen, ebenso aus der Ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR 1988/89. Auch Gedanken und Konzepte von SED-Mitgliedern wie Rolf Henrich mit seinem Buch „Der vormundschaftliche Staat“ oder „Die Alternative“ von Rudolf Bahro zählen für Schorlemmer dazu. Immer mehr Menschen hätten „die großen emanzipatorischen Ideen hochgehalten gegen die organisierte Verantwortungslosigkeit und die sozialistische Idee mit der ökologischen Erhaltungsverantwortung verbunden“.

„Große friedliche Oktoberrevolution“

„Es gab eine Volksbewegung aus vielen kleinen Gruppen heraus, die aber interessanterweise dann aber ganz ähnliches in die Öffentlichkeit brachten“, beschrieb der Wittenberger Theologe das Bild der Opposition in der DDR in deren letztem Jahr. „Das, was die in Suhl machten, war gut vergleichbar mit dem, was die in Güstrow machten – ohne, dass sie telefonische Kommunikation hatten.“

Sie hätten entscheidend zur „großen friedlichen Oktoberrevolution“ beigetragen, wie Schorlemmer die damaligen Ereignisse bezeichnet. Das habe sogar auf linke und demokratische Kräfte in der Bundesrepublik ausgestrahlt und auch ihnen Hoffnung auf mögliche Reformen gegeben.

Bei den oppositionellen Gruppen habe es Menschen gegeben, die auf keinen Fall eine deutsche Wiedervereinigung wollten, und gleichzeitig jene, die genau das anstrebten. Die einen hätten das eigene Land, die DDR, wieder aufbauen wollen, um in „sanfter Zweistaatlichkeit“ ein „neues, neu vereinigtes Deutschland“ aufzubauen, Erfahrungen aus Ost und West aufgreifend.

Angst der Macht vor einem Wort

Schorlemmer erinnerte daran, dass in der DDR sogar das Wort „Opposition“ verboten war, als Erbe Stalins. Für den DDR-Sicherheitsapparat und die SED seien das „konterrevolutionäre Kräfte“ gewesen. Er habe auf der evangelischen Synode 1986 in Erfurt gesagt, es müsse alles dafür getan werden, dass das Wort „Opposition“ zur politischen Kultur der DDR und nicht ins Strafgesetzbuch gehört.

Auch in den kirchlichen Kreisen hätten einige Schwierigkeiten mit dem Wort gehabt und es vermieden, zum Teil um die Gruppen unter dem Dach der Kirche zu schützen. Doch der Wittenberger Pfarrer mahnte auch:

„Wer in der Opposition groß geworden ist und sie überwunden hat, steht in der Gefahr, bestimmte Dinge, die er erlitten hat, unter anderen Vorzeichen zu imitieren. Und Hass nährt Hass.“

Die Rolle der Kirchen in den letzten Jahren der DDR sei unterschiedlich gewesen. Die katholische Kirche habe sich weitgehend aus der Politik rausgehalten. Erst in den letzten Monaten 1989 habe diese sich erkennbar auf die Seite der „Straßenrevolutionäre“ gestellt. Die evangelischen Kirchen hatten frühzeitig oppositionellen Gruppen ein schützendes Dach geboten, wenn auch nicht alle diesen Gruppen gegenüber offen waren, wie Schorlemmer sich erinnerte. Manche hätten sich dafür eingesetzt, die Kirchen nicht zu politisieren, um die jungen Leute in den Gruppen zu schützen.

Angst vor der Gewalt des Staates

Niemand habe damals gewusst, dass es nicht zu einer DDR-Variante der Vorgänge auf dem Pekinger Tiananmen-Platz kommt. Es habe die Furcht gegeben, dass die DDR-Behörden mit Gewalt auf Protest auf den Straßen reagieren, wie es zu Beginn der Endzeit auch der Fall war. Dass es nicht dazu kam, bezeichnete der Theologe geradezu als ein „Wunder“, wozu unter anderem Propst Heino Falcke oder Bischof Gottfried Forck von der evangelischen Kirche vermittelnd beigetragen haben.

Bei den Treffen der Gruppen seien immer auch „Inoffizielle Mitarbeiter“ (IM) des MfS dabei gewesen, die manchmal bis zu einem Drittel der Teilnehmenden ausgemacht hätten. Bei einer dieser Veranstaltungen sei einer der IM als der schärfste Kritiker der DDR-Umweltsünden aufgetreten, erinnerte sich Schorlemmer. Die Kirche habe die kleinen Gruppen zu gemeinsamen Veranstaltungen und Seminaren wie den „Friedenswerkstätten“ zusammengebracht. Dort seien immer wieder bundesdeutsche Persönlichkeiten wie der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter oder der Friedens- und Zukunftsforscher Robert Jungk aufgetreten.

Der Theologe erinnerte sich auch an zahlreiche „kümmerliche Veranstaltungen“ dieser Art, „zu denen das Volk nicht kam“. Umso mehr seien die Massenproteste vom Herbst 1989 für ihn eine wunderbare Überraschung gewesen, gerade angesichts der damaligen Fluchtwelle.

Die Flüchtenden rissen die Mauer ein

Er habe sich geirrt in seiner Haltung gegenüber jenen, die aus der DDR flüchteten, gestand Schorlemmer ein. „Die brauchen wir hier!“, habe er damals gesagt. „Andererseits: Ohne die Zange, mit der die Grenze zwischen Österreich und Ungarn geöffnet wurde, wäre es kaum zum Kapitulieren der DDR-Staatsmacht gekommen. Das wussten die Obergenossen, dass Mauerflucht zum ‚Mauerfall‘ führt.“

Er habe damals vor 30 Jahren gewollt, dass die Flüchtenden im Land bleiben, all die Ärzte, Ingenieure und wichtigen Fachkräfte. „Ich wollte, dass wir hier weiter Druck machen. Der Überdruck ging weg. Und in der SED dachten viele: Lass doch die paar Leute wegrennen.“

Irgendwann hätte die DDR-Führung aber angesichts der anhaltenden Fluchtwelle gemerkt, wenn sie so weitermachen würde, bricht alles zusammen. „Die jungen Leute hauten ja in Scharen ab“, erinnerte sich Schorlemmer, „auch Leute, die es hier gut getroffen und angepasst gelebt hatten.“ Selbst seine Tochter habe die DDR verlassen wollen, wovon er sie aber abhalten konnte. Er habe befürchtet, dass sie sich nicht wiedersehen könnten. Sie blieb, obwohl sie keine Chance auf einen Studienplatz hatte.

Evangelische Kirche als Schule für Demokratie

Der Theologe meinte zur Rolle der Kirchen, insbesondere der evangelischen, dass diese mit ihren Synoden gezeigt hätten, wie demokratische Prozesse und Gepflogenheiten funktionierten. „Das hat eine in die Fläche gehende Wirkung gehabt. Das waren Kristallisationspunkte für eine Aufbruchsbewegung zu mehr Gerechtigkeit, mehr Frieden und mehr Bewahrung der Schöpfung.“ Zudem hätten die Kirchen geholfen selbstkritisch zu verarbeiten, „was von Deutschen und durch Deutsche nach 1933 geschehen war und welche Auswirkungen andererseits Antikommunismus haben kann“.

Und es habe auch mutige Kommunisten in der DDR gegeben, die sich über manche zentralen Vorgaben hinweg gesetzt hätten, hob der Theologe hervor. Er habe das selber erlebt. Zu seinen DDR-Erfahrungen gehört ebenso manches, das Hass auf jene von SED und MfS hätte nähren können, die versuchten, ihn zu bevormunden, zu bespitzeln, zu „zersetzen“.

Doch Schorlemmer forderte als einer der Redner der großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz dazu auf, gewaltlos zu bleiben, die Fäuste nicht einzusetzen:

„Lasset die Geister aufeinanderprallen, aber die Fäuste haltet stille.“

Rund 500.000 Menschen demonstrierten an dem Tag gegen die noch bestehende SED-Allmacht. Der bürgerbewegte Theologe wandte sich in seiner Rede gegen Rachegedanken: „Wo persönliche Verantwortung oder Schuld vorliegt, ist strikte Gesetzlichkeit einzuhalten. Tolerieren wir nirgendwo Stimmen und Stimmungen der Vergeltung.“

Macht der Argumente gegen Argumente der Macht

Ihm sei es wichtig gewesen, miteinander über das, was war und wurde, kontrovers zu diskutieren „und mutig sich zu befragen“, erklärte er rückblickend dazu. Die Argumente sollten zählen – „die Macht der Argumente und nicht die Argumente der Macht“. Er habe, geprägt von den Texten von Albert Camus sich dafür eingesetzt, dass die neuen Mächtigen nicht wurden wie die abgesetzten Alten.

Es sei ihm um eine andere Revolution gegangen, so wie Camus „Brot und Freiheit“ immer in enger Beziehung gesehen habe. „Das hat mich getragen und motiviert“, fügte er hinzu. Im Gespräch in Wittenberg zitierte er unter anderem aus der Rede des französischen Schriftstellers, die dieser hielt, als er 1957 den Nobelpreis für Literatur verliehen bekam. Die Bücher von Camus hätten ihm Freunde aus der Bundesrepublik mitgebracht.

Schorlemmer hat in letzten 30 Jahren immer wieder auch erlebt, dass sein Einsatz für einen fairen, toleranten und nicht von Rache geprägten Umgang missverstanden wurde. So haben ihm andere aus der einstigen Bürgerbewegung mehrmals absurderweise vorgeworfen, er habe mit der SED und deren Nachfolgern gemeinsame Sache gemacht. Dabei hätten ihm die Spitzen von SED und MfS unterstellt, dass er die DDR abschaffen wolle, wie er nach 1989 erfahren habe, sagte Schorlemmer dazu.

Er habe auch jenen gestattet, die bis 1989 geglaubt hatten, dass der Sozialismus mit Hilfe einer Partei gestaltet werden könne, sich zu wandeln. Das hätten ihm andere einstige oppositionelle Kräfte aus dem untergegangenen Land immer wieder übel genommen.

Im dritten Teil, der am Sonntag folgt, geht es vor allem um den 4. November 1989, die Maueröffnung fünf Tage später sowie das, was folgte.

Literaturtipp:
Friedrich Schorlemmer:
„Klar sehen und doch hoffen – Mein politisches Leben“
Aufbau Taschenbuch Verlag. 523 Seiten. ISBN 978-3-7466-3024-3. 12,99 Euro

Friedrich Schorlemmer: „Wortmacht und Machtworte – Eine Eloge auf die Leselust“
Radius Verlag, 2018. 144 Seiten. 978-3-87173-067-2. 14 Euro