Der einstige Wehrmachtsoffizier Heinrich Gerlach hat mit seinem Roman „Durchbruch bei Stalingrad“ nicht nur Zeugnis von dem Geschehen vor 75 Jahren abgelegt, sondern auch vom verbrecherischen Krieg der faschistischen Wehrmacht. Das sagt Herausgeber Carsten Gansel aus Anlass des Jubiläums der deutschen Kapitulation vor Stalingrad am 2. Februar 1943.
Professor Gansel, am 2. Januar jährt sich zum 75. Mal die Kapitulation der deutschen 6. Armee vor Stalingrad. Sie haben 2016 das Buch „Durchbruch bei Stalingrad“ von Heinrich Gerlach in der Originalfassung herausgegeben. Wie sehen Sie als Literaturhistoriker, der sich durch das Buch intensiv mit dem Thema beschäftigt hat, die Botschaft des Buches und dieses Jubiläum?
Die Botschaft des Buches, das Heinrich Gerlach sich nach den für ihn traumatischen Ereignissen abgerungen hat, lautet auf einen Punkt gebracht natürlich: Nie wieder ein solcher Krieg – nie wieder Krieg! Heinrich Gerlach ist, wie er selbst gesagt hat, durch „die Hölle von Stalingrad“ gegangen. Er hat gesehen, wie Tausende von Soldaten und Offizieren umgekommen sind, wie sie verhungert und mit Erfrierungen und schwersten Verletzungen in Gefangenschaft geraten sind. Von dieser Gefangenschaft berichtet er dann in seinem zweiten Dokumentarroman „Odyssee in Rot“, den wir im Galiani-Verlag im letzten Jahr neu herausgebracht haben. Sein Motiv, den Stalingradroman zu schreiben, als er in die Gefangenschaft kam, war: Zeugnis ablegen! Das ist auch der Grund gewesen, warum später, als er aus der Gefangenschaft 1950 ohne das Manuskript zurückkam, sein großes Ziel darin bestand, diesen Roman noch einmal neu zu schreiben. Um es noch mal auf den Punkt zu bringen: Er hat die Schrecknisse dieses Krieges erlebt, von Anfang, von 1939 an. Er hat den Kessel von Stalingrad erlebt und erfahren, wie dort eine Armee von ca. 300.000 Mann sinnlos geopfert wurde, auf Befehl von Hitler. Die Soldaten und Offiziere sollten im Kessel ausharren. „Ihr könnt Euch felsenfest auf mich verlassen“, so Hitlers Versicherung, der die Eingeschlossenen geglaubt haben. Am Ende müssen sie erkennen, dass sie sinnlos geopfert werden. Entsprechend setzt Heinrich Gerlach dann einen soldatischen Chor in der Abschlussepisode ein, wo die Soldaten rufen: „Wir danken unserem Führer! – Heiiil Hitler!“ Und sogleich danach folgt der Kommentar: „Es ist nicht Spott, nicht Hohn, es ist eine kalte, klare, furchtbare Abrechnung.“
Ist das ein Buch, in dem wie in vielen anderen Publikationen zum Thema Stalingrad der deutsche Soldat als Opfer gezeigt wird? Oder ist das mehr, was Heinrich Gerlach als Erinnerung aufgeschrieben hat? Ich glaube, man muss zwischen der Urfassung und der rekonstruierten Neufassung, die in den 1950er Jahren erschienen ist, unterscheiden. Bei der Neufassung würde ich sagen: Ja, da spielt das sogenannte soldatische Opfer-Narrativ schon eine viel stärkere Rolle. Das hängt auch mit dem Zeithorizont zusammen. Wir sind in der Bundesrepublik der 50er Jahre, in diesem Kontext entsteht diese zweite Fassung „Die verratene Armee“, die eine Neufassung ist. Da ist klar, dass dem schrecklichen Schicksal der deutschen Soldaten irgendein Sinn gegeben werden muss. Wenn man das soldatische Opfer-Narrativ auf den Punkt bringt, könnte man es so formulieren: „Vorn stand der Russe, hinten standen die Kettenhunde – was sollten wir tun?“ Das ist eine existenzielle Frage, vor die viele sich gestellt gesehen haben. Dieses Opfer-Narrativ ist in der Erstfassung, also in „Durchbruch bei Stalingrad“, nicht so ausgeprägt. Auch diese eschatologischen, ja fast biblischen Untergangsvisionen finden sich in dieser Erstfassung nur ansatzweise. Der Original-Roman, die Ur-Fassung ist authentischer. Selbstverständlich finden wir darin auch verschiedene Stellen – was ganz wichtig gewesen ist –, wo von Verbrechen der Wehrmacht die Rede ist. Insofern ist die Wehrmacht oder sind die Soldaten eben nicht nur Opfer. Sie sind selbstverständlich auch Täter – das darf man auch nicht vergessen.
Nun ist dieses Buch des ehemaligen deutschen Offiziers Heinrich Gerlach auch eine klare Absage an die faschistische Ideologie und die Verbrechen des Krieges, auch die Verbrechen der Wehrmacht. Trotzdem wurde Heinrich Gerlach, als er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden ist, das Originalmanuskript damals vom sowjetischen Geheimdienst NKWD abgenommen. Erst Sie haben es in Moskauer Archiven wiederentdeckt. Warum wurde das Buch vom sowjetischen Geheimdienst einkassiert?
Dafür hat es sicherlich viele Gründe gegeben. Ein erster Moment ist sicherlich der gewesen, dass es den deutschen Gefangenen grundsätzlich untersagt war, schriftliche Zeugnisse aus der Gefangenschaft mitzunehmen. Das Zweite: Selbstverständlich war man sich unsicher und wollte nicht, dass ein Roman über Stalingrad, von dem man nicht wusste, was in diesem Text steht – von einem deutschen Oberleutnant, der noch dazu im „Bund Deutscher Offiziere“ und im „Nationalkomitee Freies Deutschland“ gewesen ist und der sich letztendlich geweigert hat, bestimmte Funktionen in der SBZ und der späteren DDR anzunehmen –, nach Deutschland kommt. Drittens gab es Beurteilungen über Heinrich Gerlach, eine davon unter anderem von Walter Ulbricht, die ihn als „unsicheren Kantonisten“ einschätzten und behaupteten, dass Gerlach seine Wandlung nur vorspiele und nach wie vor ein Nazi sei.
Wie haben Sie das Originalmanuskript in Moskau gefunden?
Ich kannte den Roman seit Beginn der 90er Jahre, also die neugeschaffene Fassung „Die verratene Armee“. In dieser war auch vermerkt, dass es sich eigentlich um eine rekonstruierte Fassung handelt und das Original dem Autor 1949 abgenommen wurde. Schon damals dachte ich: Das wäre eine ungeheuer spannende Geschichte, wenn dieses Manuskript noch existierte. Da ich immer wieder zu Gedächtnis, zu Erinnerung und auch zur Darstellung des 2. Weltkriegs in der Literatur gearbeitet habe, hat mich dieser Gedanke nie losgelassen. Mein Mitarbeiter hier an der Universität Gießen, Norman Ächtler, hat eine Arbeit zum 2. Weltkrieg und zur „Generation in Kesseln“ geschrieben. Von daher war Gerlach immer ein Thema. 2011 kam ich dann mit einem Kollegen zusammen, der in russischen Archiven in Moskau gearbeitet hat, und dabei sprachen wir über meine Vorhaben. Es ging um die Kulturarbeit in den sowjetischen Gefangenenlagern und in diesem Zusammenhang auch um Heinrich Gerlach. Ich fragte ihn, ob es denn wieder möglich sei, in die Archive zu kommen. Er sagte: Ja, das ist durchaus denkbar. So hat sich dann ein Weg gefunden. Da ich früher einmal Slawistik studiert habe und noch einigermaßen gut russisch spreche, konnte ich das Findbuch im Russischen Staatlichen Militärarchiv nicht nur einsehen, sondern auch ohne Probleme verstehen. Darin tauchte dann die Urfassung von Heinrich Gerlachs Roman mit dem Titel „Durchbruch bei Stalingrad“ auf. Das ist sehr knapp die ungemein spannende Geschichte, die mithin sehr lange zurückreicht. Danach begann dann eine nicht weniger spannende Geschichte, bei der es darum ging, das Ur-Manuskript zum Buch zu machen.
Wer mehr dazu wissen will, kann das sehr schön in ihrem Nachwort zum Buch von Heinrich Gerlach nachlesen. Der Autor lässt sein Alter Ego Oberleutnant Breuer unter anderem sagen, die Wehrmacht habe in Stalingrad ihr wahres Gesicht hinter einer Maske von Tradition und hohlen Formen gezeigt. Und: „Um uns die Augen zu öffnen, musste erst Stalingrad kommen.“ Was ist von solchen Erkenntnissen geblieben, heute, 75 Jahre später?
Heinrich Gerlach und mit ihm andere Offiziere, die im „Bund Deutscher Offiziere“ zusammenfanden und gemeinsam dann im „Nationalkomitee Freies Deutschland“ zusammengearbeitet und eine Zeitung herausgebracht haben, „Das Freie Deutschland“, hatten die Hoffnung, den Krieg beenden zu können. Sie setzten auf einen Sturz Hitlers, um das zu verhindern, was dann die Folge der bedingungslosen Kapitulation war. Diese Leute standen selbstverständlich auch im Widerstand gegen Hitler – auch wenn das viele Jahre sicherlich so nicht gesehen wurde. Sie haben durch das Ereignis Stalingrad vor Augen geführt bekommen, wohin eine Maschinerie führt, die sogenannten fremden Raum erobern will und einen Vernichtungskrieg führt. Das hat Heinrich Gerlach erlebt. Seine Beiträge in der Zeitung „Freies Deutschland“ belegen, dass er der festen Überzeugung war, dass nur ein Sturz Hitlers das Schlimmste wird verhindern können. Ich sprach schon davon, dass selbstverständlich auch von Verbrechen der Wehrmacht die Rede ist. Mit anderen Worten: Sein Blick auf das, was Deutschland war, hatte sich durch Stalingrad und die Gefangenschaft verändert. Er war zum Kriegsgegner geworden, und auch nach der Rückkehr nach Westdeutschland war ihm durch die Erfahrung von Stalingrad und die Gefangenschaft klar, dass es nicht angeht, gesellschaftliche Konflikte mit militärischen Mitteln zu lösen. Das ist sicher auch eine Botschaft, die all diesen Texten, über die wir jetzt sprechen, eingeschrieben ist. Wir sind mit einem Team in Wolgograd gewesen und haben gesehen, dass dort immer noch Soldaten aus der Erde ausgegraben und beigesetzt werden: auf der einen Seiten die russischen, und auf der anderen Seite die deutschen Soldaten – noch 75 Jahre nach diesem schrecklichen Ereignis. Man erlebt also noch heute in Wolgograd die Dimension dessen, was dort geschah, das Grauen, das Unmenschliche, und das betrifft nicht nur die Soldaten, sondern selbstverständlich auch die Zivilbevölkerung von Stalingrad. Insofern sage ich immer, solche Romane und solche Orte sind Begegnungsorte und sollten Orte des Dialoges sein. Ich sage auch: Es sollten sich diejenigen, die Verantwortung tragen, nach Stalingrad aufmachen. Man muss über das, was geschehen ist, reden. Man muss alles daran setzen, dass Konfrontation ersetzt wird durch Dialog. Es gibt einen schönen Satz eines deutschen, sehr bekannten und wichtigen Autors, Uwe Johnson. Der spricht wiederholt davon, dass es darauf ankomme, „die andere Seite mit ihren eigenen Augen zu sehen“. Das bedeutet Perspektivenübernahme. Das bedeutet Empathie. Nur so funktioniert auch Literatur, dass wir durch den Text, durch das, was geschildert wird, hineinversetzt werden als Leser in eine Schreckenssituation, wie das die Schlacht von Stalingrad gewesen ist – in der Hoffnung, wie Brecht sagen könnte, dass man durch das, was einem vorgeführt wird, lernt. Nicht mit oberlehrerhafter Geste, sondern durch eigene Erkenntnis. Und eine Schlussfolgerung kann und muss sein: So etwas darf nie wieder geschehen!
Das ist ein wichtiger Aspekt, wenn man sich zum Beispiel heute das angespannte Verhältnis unter anderem zwischen Deutschland und Russland anschaut, gerade angesichts der geschichtlichen Erfahrungen. Im Nachwort zu dem Buch erinnern Sie an weitere Bücher zum Thema 2. Weltkrieg, so an Theodor Plieviers Roman über Stalingrad. Es gibt auf sowjetischer Seite von Wasili Großmann den großen Roman „Leben und Schicksal“, der sich mit Stalingrad beschäftigt. Der erste sowjetische Roman zum Thema stammte von Viktor Nekrassow. Wie lässt sich Heinrich Gerlachs Buch mit diesen anderen Werken vergleichen?
Das ist keine leichte Frage, weil die eben von Ihnen genannten sowjetischen Autoren – Konstantin Simonow würde noch dazu gehören mit „Tage und Nächte“ – sowie die Texte in der Gegenwart von russischen Autoren, „Moskau-Stalingrad“ (2013) von Rogassjew oder Solototrubows „Stalingrad“ (2015), also jüngere Publikationen, einen neuen Zugang eröffnen und einmal mehr die sowjetische bzw. russische Seite zu Wort kommen lassen, also diejenigen, die angegriffen worden sind, die einen Verteidigungskrieg geführt haben und letztendlich die Wehrmacht und Hitler besiegt haben. Wir sprechen hier von Texten, die gewissermaßen aus einem Siegergedächtnis hervorgehen. Heinrich Gerlach war stattdessen ein deutscher Wehrmachtsoffizier, in dessen Roman mit Notwendigkeit die deutsche Seite im Zentrum steht und der zeigt, was mit diesen Männern, Soldaten, Offizieren in Stalingrad geschah. Insofern ist der Blickwinkel ein etwas anderer als in der sowjetischen und russischen Literatur. Geschrieben wird, wenn man so will, aus einem Verlierergedächtnis. Aber Einigkeit existiert in Einem: Beide Seiten zeigen auf erschütternde Weise und über einen harten Realismus das, was Krieg, das, was ein Vernichtungskrieg, für den Einzelnen bedeutet. Es wird der Schrecken, das Grauen, das Monströse eines solchen Vernichtungskrieges, auf beiden Seiten offenbar. Dazu muss gesagt werden, dass es in Deutschland, in der deutschen Literatur letztlich nicht so viele Stalingrad-Romane gibt. Ganz im Gegensatz zur sowjetischen und russischen Literatur. Der Roman von Heinrich Gerlach ist einer, „Hunde wollt ihr ewig leben“ von Fritz Wöss ist ein anderer. Dann natürlich Plievier, den Sie genannt haben, oder Alexander Kluges „Schlachtbeschreibung“. Freilich existieren zahlreiche Erinnerungen von ehemaligen „Stalingradern“. Und natürlich müssen wir unterscheiden, was bis 1989 in der Bundesrepublik und der DDR zu Stalingrad und zu den anderen Kesselschlachten des 2. Weltkrieges erschienen ist. Da gibt es große Unterschiede.
Sie haben schon die Grundaussage mit Blick auf heute erwähnt, dass diese Bücher zeigen, was ein Krieg bedeutet, welche Schrecken er bedeutet. Eine letzte, ganz aktuelle Frage dazu: Die Bundesregierung hat mitgeteilt, dass sie kein offizielles Gedenken an die Opfer von Stalingrad veranstaltet. Wie lässt sich angesichts all dessen eine solche Haltung einschätzen?
Soweit ich weiß, werden der deutsche Botschafter in Russland und der deutsche Verteidigungsattaché bei den Gedenkfeiern in Wolgograd dabei sein. Und in der deutschen Presse gibt es zahlreiche Beiträge zu Stalingrad. Aber unabhängig davon: Es gehört für mich selbstverständlich dazu, dass beide Seiten, also diejenigen, die diesen Krieg begonnen und diesen Vernichtungskrieg geführt haben, wie auch diejenigen, die dann zu den Opfern wurden, die Erinnerung an ein solches Ereignis wachhalten und dem gedenken. Wir wissen, dass etwa 700.000 Menschen in Stalingrad ihr Leben ließen, nicht zuletzt auch Zivilisten und Soldaten der damaligen Roten Armee. Von daher scheint es mir schon angeraten, dass Deutschland und Russland sich angesichts dessen, was in Stalingrad vor nunmehr 75 Jahren geschehen ist, verständigen und miteinander sprechen. Dialog, Kommunikation und ein Gedenken sind gerade in der Gegenwart wichtig.
Heinrich Gerlachs Roman „Durchbruch bei Stalingrad“ wurde in der Originalfassung von dem Literaturhistoriker Carsten Gansel 2016 im Verlag Galiani herausgegeben.
Er ist inzwischen auch im Deutschen Taschenbuch-Verlag (dtv) erschienen.